Es gibt kein Leben ohne Rituale!
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Es gibt kein Leben ohne Rituale!

Seit geraumer Zeit wenden sich Wissenschaftler dem Thema der Rituale neu zu. Das rituelle Bedürfnis des Menschen greift derart tief, dass manche Forscher einen biologischen Hintergrund dafür vermuten. Aber welche Rolle spielen Rituale im Leben eines Menschen und welchen Nutzen versprechen sie einem Individuum, einer modernen Gesellschaft?

Per Definition ist ein Ritual eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende Handlung mit hohem Symbolgehalt. Diese können sich individuell wie auch im Kollektiv abspielen. Neuro­biolo­gisch konnte nachgewiesen werden, dass, wenn Menschen starke, emotionale Bindungen eingehen, das Hormon Oxytocin ausgeschüttet wird (Neue Zürcher Zeitung NZZ, 2009). Dieses Hormon sorgt dafür, dass wir jene Verhaltensweisen ausbauen, die unsere zwischenmenschlichen Beziehungen sichern und unser Vertrauen steigern. Daraus ergeben sich natürlicherweise Verhaltens­muster, mentale Ankerpunkte oder eben Rituale, die einem durch alle Veränderungen helfen sollen. Oftmals gehen sie einher mit der Trennung von alten Gewohnheiten, dem Beschrei­ten neuer Wege und dem Herstellen neuer Freundschaften und sozialer Bindungen.

Rituale erleichtern das Leben

Der Ethnologe Axel Michaels von der Universität Heidelberg beschreibt in seinen Arbeiten, dass der Nationalsozialismus, die Dominanz der Kirche und die verschlossenen Regierungs­systeme dafür verantwortlich waren, dass das Wort «Ritual» oft negative Empfindungen auslöste (Machac, 2013). Doch heute haben Rituale wieder Konjunktur, was kaum verwundert, denn der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Dabei erfüllen ihm Rituale sowohl individuelle wie auch gesellschaftliche Bedürfnisse. Mit der Absicht, Nähe, Gemeinsamkeit oder Orientierung zu schaffen, wird unter anderem das gemeinsame Handeln, das gemeinsame Ziel und der enge Kontakt zueinander gepflegt.

Auf der individuellen Ebene erlauben Rituale, aus dem Alltag herauszutreten, eine Weile «Narrenfreiheit» zu geniessen und sich dann erneut in das Gesellschaftsgefüge zu integrieren. Rituale erleichtern das Leben durch festgelegte Routinen. Sie sorgen überdies für gute Laune und helfen Ihnen dabei, in kreativen Arbeiten aufzugehen, wie die Forschung aufzeigen konnte.

Doch Gewohnheiten weisen auch Schattenseiten auf. Durch automatisch ablaufende, wiederkehrende Verhaltensweisen kann ein Mensch unflexibel werden (Wagner, 2011). Daneben gibt es auch ungesunde Routinen, die sich meist schleichend festigen. Exorbitante, suchtgesteuerte Genussbefriedigung oder belastende Stresssituationen sorgen für eine schleichende Festigung fehlgeleiteter Rituale (RKW, 2015). Die Frage des Masses bestimmt also, ob ein Ritual positiv oder negativ wahrgenommen wird.

Schiller und der Apfel

Sollten Sie besonders ausgefallene Rituale pflegen, brauchen Sie sich nicht zu genieren. Sie befinden sich damit in bester Gesellschaft. Der Dichter und Dramaturg Friedrich Schiller beispielsweise setzte sich nur dann an seinen Arbeitstisch, wenn in der Schublade ein Apfel vor sich hin moderte (Schnurrenberger, 2014). Er war überzeugt, dass der Geruch seine Talente stärker her­vor­bringen würde. Auch der Renaissance-Kunstpionier Leonardo Da Vinci mochte rituelle Handlungen. So versprühte er gemäss alten Überlieferungen in seinem Atelier Parfum und liess sich beim Malen oft von Musik begleiten.

Das Pflegen von Ritualen geht häufig Selbsterhaltungszwecken einher und stärkt damit massgeblich unsere Selbstliebe. Dazu gehören Traditionen und Gewohnheiten und bewusste Zeiten der Entschleunigung und Besinnung auf das Wesentliche im Leben, nämlich der Beziehung zu- und miteinander, aus der Kraft geschöpft werden kann. Rituale sind erfundene Wirklichkeiten. Man schöpft aus dem Nichts Verlässlichkeit, Zuversicht und  sogar Trost, wodurch das Sich-Wohl-Fühlen, das Sich-Zugehörig-Fühlen und das Sich-Sicher-Fühlen gestärkt werden kann. Bevor Rituale definiert und umgesetzt werden, sollten Sie demnach zuerst wissen und akzeptieren, wer Sie eigentlich sind.

Mit sich selbst kommunizieren

Selbstkenntnis führt zunächst zur Selbstliebe und besteht in der Selbstannahme. Nehmen Sie Ihre Vergangenheit, Ihr Erscheinungsbild und ihre persönlichen Eigenschaften an. Anerkennen Sie Ihre Stärken und Schwächen. Dazu zählen im Wesentlichen auch die Annahme und das Verzeihen seiner eigenen Fehler und Versäumnisse. Bedenken Sie, alle Zweifel und Widerstände, die Sie Ihrer Selbstanalyse entgegenbringen, rauben nur kostbare Lebenskraft, weil sie versuchen, Ihre Illusionen aufrechtzuerhalten.

Darüber hinaus umfasst die Selbstliebe auch das Formulieren von Träumen, Zielen und Bedürfnissen. Aus alledem erwächst das Selbstwertgefühl, wertvoll und liebenswürdig zu sein und andere gleichwertig schätzen und lieben zu können, ohne sich zu verbiegen, und ohne überzogene Erwartungen. Unsere innere Stimme nimmt darauf viel Einfluss. Die Worte, mit denen wir über uns denken und innerlich mit uns selbst reden, haben Macht. Sie beein­flussen unsere Gefühle und unser Handeln. Wir können auf liebevolle und stärkende, aber genauso auf kleinmachende und vernichtende Art und Weise mit uns kommunizieren. Stellen Sie sich relevante Fragen, mögen Sie auch noch so unangenehm sein. Werfen Sie sich nicht vor, nicht auf Anhieb Antworten auf diese Fragen zu finden. Das Gespräch soll vermehrt dazu dienen, sich selbst in der Umwelt, in welche man eingebettet ist, zu erkennen. Ihr Verhalten und Ihre Handlungen werden für Sie besser begreif- und nachvollziehbar.

Die folgenden Rituale können Ihnen dabei helfen, besser durch den Tag zu kommen

Ritual 1: Positiver Tagesstart

Entwickeln Sie morgendliche Rituale. Stehen Sie auf, wenn der Wecker das erste Mal klingelt. Drehen Sie sich nicht noch einmal um. Nutzen Sie vielmehr die gewonnene Zeit für einen angenehmen Tagesstart. Strecken und dehnen Sie Ihren Körper. Gönnen Sie sich eine Tasse Tee oder Kaffee auf dem Balkon. Atmen Sie tief ein. Setzen Sie Genussmittel gezielt und massvoll ein. Überlegen Sie, was Sie an diesem Tag erwartet, und organisieren Sie sich bei dieser morgendlichen Gelegenheit, um aufkommendem Stress entgegenzuwirken. Eine kurze Meditation kann Ihnen dabei helfen, Ihre Gedanken zu ordnen. Der tägliche Einsatz von 10 bis15 Minuten dürfte realistisch umsetzbar sein. Ein festes Morgenritual hilft Ihnen dabei, gut und entspannt in den Tag zu kommen.

Ritual 2: wonnige Spasszeiten

Werden Sie durch Beruf oder Privates stark vereinnahmt, ist es umso wichtiger, Ihre Wonnezeit nicht zu vernachlässigen. Diese Form von Ritual spricht alle Menschen gleichermassen an. Das Ritual sieht vor, sich regelmässig Zeit zu nehmen für Spassmomente. Verwenden Sie täglich mindestens 30 Minuten Ihrer Zeit für Aktivitäten, die Sie ernsthaft glücklich machen. Folgen Sie dabei ganz Ihrem Interesse. Ganz egal, ob es sich dabei um das Lesen eines Romans, das Pflegen des Gartens, das Hören von Musik, das Treiben von Sport oder den Besuch einer Kinovorstellung handelt. Natürlich ist es auch erlaubt, gar nichts zu unternehmen und auf der Couch herumzulungern. Wichtig dabei ist nur eines: Es soll das sein, was Sie Freude empfinden lässt.

Ritual 3: pragmatische Selbstverwirklichung

Wie oft ärgern wir uns darüber, unsere eigenen Wünsche zu vernachlässigen und unsere eigenen Ziele nicht zu verwirklichen? Ihre Lebenszeit ist begrenzt, und darin soll auch Ihre Selbstverwirklichung Platz finden. Vielleicht wollten Sie längst Ihr Oldtimer-Motorrad restaurieren, eine neue Sprache lernen oder auf abenteuerliche Entdeckungsreisen gehen. Die Liste ist lang. Häufig schieben wir diese, uns wichtigen Anliegen aus unterschiedlichen Gründen vor uns her. Stoppen Sie das Aufschieben – verzögern Sie nicht weiter Ihren Genuss. Erachten Sie dieses Ritual als heilig und planen Sie einmal wöchentlich, bei Wunsch auch täglich, 20-30 Minuten Nachdenkzeit für Ihre Herzblut-Angelegenheiten ein. Stellen Sie sicher, dass Sie in einer ruhigen Umgebung sind, wo Sie Ihre Gedanken schweifen lassen können. Das gute Gefühl, etwas angepackt zu haben, wird Sie motivieren, weiter an sich zu arbeiten. Bald werden sich persönliche Erfolge einstellen. Tun Sie Schritt für Schritt, was Ihnen am Herzen liegt.

Ritual 4: liebevolle Selbstfürsorge

Die Selbstfürsorge ergibt sich aus einem gesunden Zusammenspiel von Körper, Seele und Geist. Arztbesuche zählen nicht zu den angenehmsten Ritualen, sind aber wichtig. Eine ausgewogene Ernährung sowie das regelmässige Treiben von Sport sind ebenso wichtige Rituale. Was bringt Ihre Seele zum Baumeln und befriedigt überdies Ihren Geist und Körper? Ein paar Beispiele: Gönnen Sie sich reichlich Auszeiten zum Krafttanken, genussvolle Massagen zur Entspannung und wohltuende Bäder zur Reinigung. Schreiben Sie gleich auf, was Ihnen noch einfällt. Reservieren Sie sich Zeit für dieses Ritual und wiederholen Sie es in einem selbstbestimmten Tempo. Freuen Sie sich darüber, etwas Gutes für sich zu tun.

Ein Ritual pflegen heisst, etwas regelmässig und mit Achtung zu tun. Es bedarf also durchaus viel Selbstdisziplin und Hartnäckigkeit, denn nur wirken die Rituale. Laden Sie sich nicht zu viel auf einmal auf, sondern selektieren Sie, was Sie am meisten anspricht. Probieren, variieren, kreieren Sie selbst. Lassen Sie Ihrer Fantasie und Ihren Wünschen freien Lauf. Jedes noch so banale und verrückte Ritual ist erlaubt, solange es Ihre Stimmung hebt und Ihre schöpferischen Kräfte weckt. Pflegen und nutzen Sie es!


Autoren

Flavio di GustoFlavio Di Giusto, dipl. Betriebsökonom FH und MSc in Business Administration, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für innovative Didaktik (ZID) an der School of Management and Law (ZHAW) in Winterthur und lehrt Betriebswirtschaftslehre, wissenschaftliches Arbeiten und Projektmanagement.

Patrik ScherlerPatrik Scherler, Dr. oec. HSG, ist Dozent für Betriebswirtschaftslehre an der School of Management and Law (ZHAW) in Winterthur und Inhaber der auf Coaching, Consulting und Connecting spezialisierten BENROX AG mit Sitz in Meilen/Zürich. Er ist Betreuer diverser Unternehmerforen, ERFA-Gruppen und Beiräte und organisiert Strategie- und Positionierungsworkshops.


Quellen

  • Machac, L. (2013). Die Macht der Rituale. Berner Zeitung BZ. 06.10.2013.
  • Neue Zürcher Zeitung NZZ (2009). Die Liebe ist nur Chemie. Neue Zürcher Zeitung NZZ. 08.02.2009.
  • RKW Rationalisierungs- und Innovationszentrum der Deutschen Wirtschaft e.V. (2015). Gesunde Rituale während der Arbeit. RKW: Eschborn.
  • Scherler, P., Teta, A., Frei, C. & Di Giusto, F. (2014). Irrtum Zeitmanagement – Vom Versuch in einem stark fremdbestimmten Umfeld nachhaltig mit der Ressource Zeit umzugehen. Zürich: Versus Verlag.
  • Schnurrenberger, S. (2014). Die seltsamen Rituale der Künstler. Die Welt. 08.04.2014.
  • Wagner, B. (2011). Die unheimliche Macht der Rituale. Die Welt. 14.06.2011.

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